Eine Indisziplinierung kolonialer Kleidercodes

 2011 war ich eingeladen für das künstlerisch-wissenschaftliche Rechercheprojekt "Webschiffe/Kriegspfade" unter der Leitung von Ines Doujak einen Beitrag für ein wanderndes exzentrisches Archiv zu formulieren. Die Sperrfristen für die einst gewünschte Exklusivität sind längst abgelaufen, daher hier der Text in voller Länge
Der Präsident von Bolivien und der König von Spanien

Evos Pullover 

Eine Erfindung von Tradition in der Begegnung von Bauer und König. Eine Indisziplinierung kolonialer Kleidercodes, ein fadenscheiniges Dispositiv und kaum ein Ausweg aus Machtverhältnissen


Chompa Evo

Tradition ist eine Erfindung – wer wüsste das besser, als die Archivar_innen dieser Welt? Die Textilie, um die es hier geht, steht für eine Tradition, die im Verlauf eines einzigen Tages erfunden wurde. Aber wie?

Ein ,Allerweltspullover‘ urteilten die Zeitungen verblüfft oder empört. Sein rot, blau, weiß und grau gestreiftes Design wurde als so gemein und durchschnittlich bewertet, dass zumindest die Textur aus edlen Materialien bestehen sollte. Doch die Vermutungen wurden enttäuscht: Keine Vikunja-Wolle, obwohl  eine der seltensten und teuersten der Welt; auch keine reine Alpaka-Wolle, sondern ein Gemisch aus dieser und synthetischen Acrylfasern. Da weder Design noch Textur eine edle Herkunft vorweisen konnten, wurde die Textilie kurzerhand zur ,Tradition‘ erklärt. Aber warum?

Der besagte Pullover sprengte alle bisher bekannten diplomatischen Gepflogenheiten. Evo Morales trug ihn auf seiner ersten Auslandsreise nach dem Amtsantritt als Staatspräsident von Bolivien im Jänner 2006, nachdem er in einer demokratischen Wahl mehr als die Hälfte aller Wähler_innenstimmen auf sich vereinigen konnte. Insbesondere das Zusammentreffen des ehemaligen Koka-Bauern (leger, im bunt gestreiften Pullover ohne Marke und Façon) mit dem spanischen König (formell, als Repräsentant einer Jahrhunderte langen imperialen und kolonialen Herrschaft) war symbolisch derart aufgeladen, dass der Pullover von einem Tag auf den anderen zur Chompa Evo gemacht wurde, einem überaus traditionellen Kleidungsstück aus den bolivianischen Anden.

Offensichtlich geht es hier nicht einfach um eine Disziplinierung von Textilien durch ihre Aufnahme ins Archiv erfundener Tradition, sondern – genauer noch – um eine Indisziplinierung, die von diesen Textilien auch hervorgebracht werden kann. Die nahezu durchgängig kolonialisierten Codes der diplomatischen Repräsentation internationaler Politik produzieren eine Serie von kaum unterscheidbaren Herren in uniformen (grauen) Anzügen. Diese Herren mögen Demokraten, Diktatoren oder Adelige sein, sie mögen durch Wahlen, Plebiszite oder Staatsstreiche an die Macht gekommen sein, in ihren Maßanzügen europäischen Zuschnitts fungieren sie immer auch als der Ausdruck einer globalisierten Identitätspolitik, als Manifestationen einer Politik der Identität im Kontext einer stets erneuerten Kolonialität.

Die Chompa Evo setzt dieser kolonialen Identität allerdings keine autochtone Indigenität gegenüber. Die Textur ihres Textils wird durch eine mehrfache Verschiebung und Neuverkettung zur Chiffre einer postkolonialen Stilkritik: Weder essenziell, noch exklusiv, bestimmt nicht diplomatisch und noch nicht mal traditionell wird sie zum Zeichen von billigem, weil populärem Geschmack und legt damit die kulturellen Festschreibungen hegemonialer Diskurse offen.

Die "Chompa Evo"
Der Allerweltspullover im Chompa Evo Design, der mir vorliegt, trägt ein Etikett, das ein gesticktes Alpaka-Kamel vor stilisierter Berglandschaft samt Sonne mit Strahlenkranz zeigt. Daneben finden sich die Initialen L.A.M. sowie die Hinweise: Made in Bolivia und 100% Alpaca, doch letzteres ist möglicherweise ein Etikettenschwindel. Was motiviert diese Vermutung? Der Pullover ist von Kleidermotten arg zerfressen, aber die zahllosen Löcher konzentrieren sich ausschließlich auf die Streifen in grauer Farbe. Weshalb blieb alles andere vom Mottenfraß verschont? Vielleicht findet sich alle (tierische) Alpakawolle in die grauen Streifen verarbeitet und der ganze Rest bestünde aus (synthetischer) Acrylfaser und wäre damit gänzlich mottenungenießbar.

Was auch immer die Gründe für die erstaunliche Verteilung sein mögen – die delikate Subversion der Kleidermotten hat das Objekt fadenscheinig gemacht, die Konsistenz des Archivs durchlöchert und das hegemoniale Dispositiv von Ordnung und Kontrolle aus den Fugen gebracht. Der Hunger nach Keratin hat vielerlei Fäden gelöst, die sich nicht mehr verknüpfen lassen und ein vergleichbarer Hunger nach Veränderung lässt die postkoloniale Zukunft dieses Symbols für einen Ausweg aus den globalisierten Machtverhältnissen bereits jetzt als alt erscheinen.

Tom Waibel