Zugsunglück am Montparnasse |
Vom 3. bis zum 5. Februar fand an der Universität Hamburg eine Konferenz statt mit dem Titel: „Die kapitalistische Moderne herausfordern. Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch“. Zahlreiche Beiträge konzentrierten sich auf alternative Möglichkeiten von Selbstverwaltung und Selbstorganisation jenseits staatlicher Strukturen. Dabei spielten Konzepte wie Kommunalismus, Basisdemokratie oder Rätesystem eine zentrale Rolle, was aber ist darunter zu verstehen? Eine Spurensuche von Tom Waibel
Solly Mapaila, Mitglied des Zentralkomitees der Südafrikanischen Kommunistischen Partei, brachte aus seinen Erfahrungen im Afrikanischen Nationalkongress (ANC) einen bedeutenden Ratschlag mit nach Hamburg. Er stellte fest, dass der ANC stets die Freiheit allem vorangestellt hatte in der Überzeugung, dass zunächst der Aufstand gemacht werden müsse und alle Projekte zur gesellschaftlichen Veränderung erst danach kämen. „Wir haben einen großen Fehler gemacht“, urteilte er, „denn wir müssen immer sofort überlegen, welche sozialen und ökonomischen Verhältnisse wir in einer Gesellschaft haben wollen.“ Seine kritische Einschätzung veranlasste ihn zum dringenden Rat an alle Kurden und Kurdinnen, auf keinen Fall denselben Fehler erneut zu begehen. Damit hatte er das Zentrum der Überlegungen getroffen. Das Leitmotiv der Konferenz, die kurdische Suche nach befreienden Alternativen zum globalen Kapitalismus, markiert, so Reimar Heider, einer der Mit-OrganisatorInnen, eine Veränderung innerhalb der kurdischen Diskussion der letzten 10 bis 15 Jahre. Es gehe nicht mehr länger darum, wie die Macht im Staat zu erobern sei, sondern darum, welche konkreten Schritte zur Befreiung der Gesellschaft tauglich sind. Und dabei spielt Mapailas Frage, welche sozialen und ökonomischen Verhältnisse konstruiert werden sollen, eine entscheidende Rolle.
Der gesamte letzte Tag der Konferenz war denn auch einer Fülle von möglichen Antworten auf diese Frage gewidmet, und so unterschiedlich sich die Skizze verschiedener Alternativen gestaltete, so nahmen sie doch alle Ausgang von einer Basis, die Antonio Negri der Konferenz in einem schriftlichen Beitrag zukommen ließ: „Es ist die jeweilige Form des Gemeinschaftlichen, die das Politische begründet“, hieß es darin. Dementsprechend ging es also darum herauszufinden, was die geeignetste Form des Gemeinschaftlichen wäre, und auf welche Weise sie herzustellen sei.
Eirik Eiglad sprach von der Geschichte und Praxis des Kommunalismus: Seit der Pariser Kommune 1871 tauchen in revolutionären Bewegungen immer wieder grundlegende Forderungen des Kommunalismus auf, etwa lokale Selbstregierungen, die gestützt auf dezentrale Selbstverwaltung Systeme regionaler Regierungen aufbauen. Gönül Kaya schilderte Elemente radikaler Demokratie aus Erfahrungen der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung. Sie machte deutlich, dass große Entwürfe neuer Gemeinschaftlichkeit in konkreten kleinen Schritten erarbeitet werden müssen, etwa dem Abbau bestehender Unsicherheiten beim öffentlichen Sprechen. Janet Biehl wies auf Verbindungen hin zwischen der Konzeption des Kommunalismus bei Bookchin und dem Entwurf des demokratischen Konföderalismus bei Öcalan. John Cronan gab einen Einblick in die Idee der partizipativen Ökonomie: Gleichheit in wirtschaftlicher Hinsicht soll darüber erreicht werden, dass die geleistete Anstrengung entlohnt wird und nicht die jeweilige Verhandlungsmacht der Arbeitenden. Ana Mezo erzählte von Erfahrungen und Herausforderungen im Aufbau von Demokratie im Baskenland. „Demokratie“, sagte sie, „ist kein Substantiv, sondern ein Verb.“ Es gibt sie nur, wenn sie durch die direkte Beteiligung aller umgesetzt wird. Gülbahar Örmek vermittelte einen plastischen Einblick in die konkreten Anstrengungen der Stadtverwaltung von Diyabakir zur Umsetzung kommunalistischer Ideen in Form von Frauenkooperativen, politischer Partizipation und basisdemokratischer Entscheidungen. „Es geht um die Schönheit der Frauen“, stellte sie fest, „nicht um die Schönheit ihrer Köpfe, sondern um die Schönheit ihres Bewusstseins.“ Ich selbst habe versucht, zwei Grundprinzipien darzustellen, auf denen die Autonomie der Zapatistas in Mexiko beruht: Die Forderung, gehorchend zu befehlen, die impliziert, dass Entscheidungen einzelner von allen überprüf- und veränderbar sein müssen. Und das Motto, fragend voranzuschreiten, d.h. nicht nur danach zu fragen, ob der Weg zum Ziel führt, sondern auch, ob der nächste Schritt tatsächlich einen Teil des Ziels verwirklicht. Gültan Kisanak wies zuletzt darauf hin, dass die Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) zahlreiche kommunalistische Forderungen in ihren Statuen verankert hat, etwa den Aufbau einer Rätestruktur, die Mobilisierung von Bildung und Selbstaufklärung und die Unterstützung lokaler Regierungsformen. Aus ihrer Rede stammt auch der Titel dieses Textes: Entweder wir finden einen Weg oder wir erfinden ihn...
Bei all dem zeigt sich eine Krise der Demokratie, die die ReferentInnen dazu veranlasst hat, neue, andere (demokratische) Formen zu artikulieren. Diese Krise ist nicht neu und sie hat vielleicht weniger mit Demokratie zu tun als mit dem Kapitalismus. In kapitalistischen Verhältnissen führt die Gleichheit vor dem Gesetz rasch zur Verallgemeinerung der Ausbeutung, die Freiheit der Entscheidung schnell zur Willkür der Verarmung und die Brüderlichkeit unversehens zur Verleugnung aller Schwestern und Geschwister. Versuchen wir dennoch, einige der genannten Demokratieformen zu unterscheiden: Basisdemokratie ist zunächst ein recht diffuser Begriff, der zwar zwischen unten und oben differenziert, aber selten mehr beinhaltet, als das Mitspracherecht der Anwesenden. Direkte Demokratie meint dagegen die Möglichkeit durch Befragung der Bevölkerung Sachentscheidungen herbeizuführen. Dieses Verfahren wird in der Regel nur als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie begriffen, in der gewählte Delegierte (parlamentarisch) entscheiden. Partizipative Demokratie indes will die politische Mitwirkung möglichst Vieler erreichen und damit zum Aufbau einer starken Zivilgesellschaft beitragen. Eine ganz grundlegende Schwierigkeit aller Demokratieformen besteht in der Frage, wer überhaupt an Entscheidungsprozessen teilnehmen darf. Das gilt nicht nur für das historische Vorbild der Demokratie: In der griechischen Polis durften bei gesellschaftlichen Belangen nur Männer mitreden, und zwar nur freie Männer. Als frei galt der Mann, wenn er dem Stadtstaat Soldaten zur Verfügung stellen konnte, und mithin ein reicher Mann war. Dieselbe Frage gilt aber auch für die reichste Vorzeigedemokratie der Gegenwart: Ein deutliches Beispiel dafür bietet etwa die Einführung des Stimmrechts für Frauen in der Schweiz. Die hier besonders ausgeprägten Mechanismen direkter Demokratie führten dazu, dass sich die stimmberechtigten Männer aus dem Appenzell bis zuletzt hartnäckig weigerten, den Frauen politische Mitsprache zu gewähren. Ihr Recht auf politische Mitbestimmung wurde erst 1990 durch eine Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts durchgesetzt und nicht etwa durch eine wie auch immer geartete „demokratische“ Abstimmung. Weitergehende Fragen nach dem Stimmrecht für MigrantInnen oder Minderheiten stellen alle Formen von Demokratie vor vergleichbare Schwierigkeiten.
In geschichtlicher Hinsicht konnte sich die Schweiz gleichwohl auf Errungenschaften des Kommunalismus berufen, mit dem zunächst die Erforschung der Gemeindeentwicklung in der frühen europäischen Neuzeit bezeichnet wurde. Dabei ging es um Fragen nach der Organisation gemeinschaftlicher Belange im Hinblick auf Entscheidungshoheit, Administration und Rechtsprechung, die trotz bestehender Leibeigenschaft in Gemeindeversammlungen verhandelt wurden. In libertärer Hinsicht ist festzuhalten, dass das sich dabei entwickelnde Selbstverständnis entscheidend zu den Bauernaufständen am Beginn des 16. Jahrhunderts beigetragen hatte. Das gegenwärtige politische Verständnis von Kommunalismus bezieht sich jedoch auf unterschiedliche Erfahrungen revolutionärer Selbstverwaltung seit der Pariser Kommune. Es handelt sich um weitreichende Alternativen, in denen soziale Bewegungen versucht haben, politische Entscheidungen in Rätestrukturen zu treffen. Dabei ging es im Wesentlichen darum, die kollektive Selbstbestimmung auf die Bereiche von Arbeit, Ökonomie und gesellschaftlicher Arbeitsteilung auszudehnen. Hannah Arendt spricht in ihrer Untersuchung Über Revolution davon, dass sich in jedem Aufstand spontan Räte bildeten, „ohne dass irgendeiner der Beteiligten je wusste, dass es dies schon einmal gegeben hat.“ (Arendt: 1963, S. 336) Es ist wichtig festzuhalten, dass bereits die Räte der Pariser Kommune keineswegs den Staat oder dessen Institutionen übernehmen wollten. Karl Marx unterstreicht das in seinen Überlegungen zum Bürgerkrieg in Frankreich: „Die Kommune war eine Revolution gegen Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft.“ (Marx: 1871, S. 541). Die in demokratiepolitischer Hinsicht brennende Frage, wer denn berechtigt sein soll an politischen Entscheidungen teilzunehmen, findet im Rätesystem eine schlüssige Antwort: Alle, die von den Entscheidungen betroffen sind. Historisch gesehen hatten die Räte niemals ausreichend Gelegenheit, ihr Potential zu Befreiung und Gleichberechtigung unter Beweis zu stellen. Sie wurden im Namen der Demokratie genauso wie im Namen des Sozialismus gewaltsam niedergeschlagen und ihre VertreterInnen verfolgt. Das führt dazu, dass auch im Hinblick auf die Rätesysteme noch zahlreiche Fragen offen sind. Ein in praktischer Hinsicht durchaus bedeutendes Problem wurde etwa von Alex Demirovic in Rätedemokratie oder das Ende der Politik formuliert: „Wie kann sich das Gemeinwesen selbst begrenzen und von den einzelnen nicht immer weiter zu fordern, immer noch mehr zu produzieren, immer noch mehr Konsum zu befriedigen, sich immer noch mehr zu engagieren?“ (Demirovic: 2009, S. 28)
Die Teilnahme aller Betroffenen an der Gestaltung der Form des Gemeinschaftlichen, die, wie wir gesehen haben, das Politische begründet, spielt angesichts der fortdauernden Verhaftungswelle gewählter VertreterInnen eine bedeutende Rolle als politische Überlebensstrategie. Wenn Woche für Woche Hunderte in Gefängnissen verschwinden, ist die Beteiligung möglichst Vieler an gesellschaftlichen Entscheidungen ein wirksames Mittel gegen die Verbannung der Politik aus der Gesellschaft und eine sich verbreitende Angst vor dem Gemeinsamen. Der gangbare Weg, der aus dieser Repression in die Freiheit führt, muss erst erfunden werden. Es gibt keine Ingenieure, die seinen Verlauf bereits berechnet hätten, nur die ungezählten Schritte vieler können ihn beim Gehen erfinden. Daran hat wohl auch Gültan Kisanak gedacht, als sie sagte, dass noch kein starkes Mittel gegen den Kapitalismus gefunden worden sei. Das soll uns aber nicht davon abhalten, jeden Tag erneut ein paar Gegenmittel ausprobieren...