Von Konsumsklaven und Warencodierungen

Astrid Esslinger: Barcode Slaves, Teheran.
Neuerscheinung: Astrid Esslinger, Paintings / Cut Outs. Selected Works 2003–2013.
Wien: Ambra 2014. Mit Textbeiträgen von Fina Esslinger, Birgit Rinagl und Tom Waibel sowie Interviews mit der Künstlerin.

Hier die Überlegungen zu Astrid Esslingers Strichcodesklaven von Tom Waibel

Astrid Esslingers Cut-Out-Serie Strichcodesklaven bedient sich graphischer Strategien zur künstlerischen Analyse globaler Machtverhältnisse. Ihre Aneignung von Logos und Piktogrammen reflektiert geopolitische Identitätskonstruktionen mit künstlerischen Mitteln und setzt die menschliche Gestalt in einen ebenso humorvollen wie kritischen Bezug zu den Codes von transnationalen Finanz- und Handelsgesellschaften. Doch Esslingers spielerische Neuanordnung von bestehenden visuellen Begründungszusammenhängen betrifft nicht nur die bildende Kunst allein, sondern bezieht sich ebenso auf Denkweisen, die sich in (post)kolonialen Blickmustern manifestieren. Um das nachzuweisen, bedarf es eines kleinen historischen Umwegs.
Die Piktogramme, die bei Esslinger zum Einsatz gelangen, sind mit jenen verwandt, die im Zuge der Globalisierung (beinahe) weltweit in standardisierter Form Anwendung finden, um möglichst rasch und sprachenunabhängig Sachverhalte zu kommunizieren oder vor Gefahren zu warnen. Die Basis zur Standardisierung dieser Piktogramme wurde vom Sozialphilosoph und Ökonom Otto Neurath gemeinsam mit dem Grafiker Gerd Arntz gelegt, als sie 1936 das International System of Typographic Picture Education (Isotype), ein Visualisierungssystem zur graphischen Darstellung ökonomischer Zusammenhänge entwickelten. Neurath und Arntz hatten Isotype nicht zur Effizienzsteigerung von internationalen Verwertungszusammenhängen konzipiert, sondern sie hatten nach einem graphischen Verfahren gesucht, um über komplexe sozio-ökonomische Sachverhalte visuell zu informieren. Zu diesem Zweck hatte Neurath die Vorentwürfe seiner Piktogramme im Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum praktisch erprobt. Dieser Prototyp eines modernen (oder konzeptuellen) Museums der 1920er Jahre zeigte anstelle überkommener Raritäten oder Prunkschätze vielmehr Bildungsmedien, die Produktionsbedingungen, Warenströme, soziale Verhältnisse und statistische Korrelationen graphisch aufbereiteten. Vieler jener Zeichen, aus denen die damalige museale Anordnung zusammengesetzt war, sind uns heute als Symbolschilder in Bahnhöfen, auf Flughäfen oder im Internet geläufig. Ihre reduzierten graphischen Formen haben sich in den heutigen Massenkommunikationsmedien derart ausgebreitet, dass die Internationale Organisation für Standardisierung (ISO) Methoden zum Qualitätstest von Piktogrammen festgelegt hat, um die Nutzung von grafischen Symbolen zu reglementieren.

Die von Astrid Esslinger piktogrammatisch bearbeiteten menschlichen Figuren sind mit keinen solchen Methoden reglementiert, sondern sie stehen vielmehr in einer raffinierten Interaktion mit dem Aufdruck der Verpackungsschachteln, aus denen sie geschnitten wurden. Diese Kartonschachteln sind Bestandteile von Abfallbergen, die unaufhörlich ins Unermessliche anwachsen, taktile Spuren und Überreste von sich beständig ausbreitenden Warenströmen, und Esslinger hat sich die Mühe gemacht, diese Überschüsse der Konsumproduktion in São Paulo, New York, Teheran und Berlin Stück für Stück auszuwählen und zusammen zu tragen. In ihrer Sammeltätigkeit wird ein demokratisierendes künstlerisches Prinzip manifest: Ohne Rücksicht, ob die Schachteln einst als Aufmachung für Luxusgüter oder als Pappbehälter für Alltagsartikel gedient hatten, ohne Unterschied, ob sie nun in Rohstoff für Recyclingmaterial oder in Schlafunterlagen für Obdachlose umfunktioniert wurden, sind diese Schacheln nach ästhetischen Kriterien ausgesucht worden, die einer zwingenden praktischen Regel gehorchen mussten: Die der leichten Transportierbarkeit der Versandschachteln, die beim Arbeiten während Auslandsaufenthalten ohne Atelier eine zentrale Bedeutung gewinnt. Folgerichtig bezeichnet Esslinger ihren auf Reisen entwickelten Arbeitsmodus als Handgepäckproduktion, in der die transportablen Fundstücke vor Ort bearbeitet werden. Diese besonderen Handgepäcksstücke erhalten durch die Relationen, die Esslinger zwischen ihren piktogrammatischen Figuren und den vorgefundenen Strichcodes herstellt, einen faszinierenden Mehrwert an Bedeutung: Erinnert der omnipräsente Strichcode an eine auf Verwertung durchkalkulierte Welt, so sind Esslingers Gestalten in der Lage, die Codes einer kulturellen Hegemonie der Wachstumsgesellschaft ein Stück weit zu dezentrieren. Wohl sind die Schachteln in (beinahe) allen Schichten auf dem (beinahe) gesamten Globus präsent, wohl gewährleistet der Strichcode eine einheitliche und transnationale Sprache, doch Esslinger stellt diesen Codierungen ihre eigenen ästhetischen Codes gegenüber und bringt damit eine subtile Störung in die (beinahe) weltweite Gleichschaltung von Lebenswelten.

Mehr noch als die Schachteln selbst vermag der darauf gedruckte Strichcode die globale Vernetzung von Warenströmen zum Ausdruck zu bringen. Dieser Strichcode besteht aus einer optisch-elektronisch lesbaren Schrift, die aus breiten oder schmalen, immer aber parallelen Strichen und Leerstellen aufgebaut ist. Die eindimensionale Binärcodierung, die dem Strichcode zugrunde liegt, war in den 1970er Jahren von IBM-Computertechnikern vorgeschlagen und aufgrund des ökonomischen Drucks, den die marktbeherrschende Handelskette Wal-Mart auf ihre Produzenten ausübte, auch eingeführt worden. Wikipedia zufolge war das erste strichcodierte Produkt, das von einer Supermarktkasse erfasst und verkauft wurde, ein Paket Kaugummi. Dieser fast läppische historische Akt weist darauf hin, dass die Homogenisierung von Warenströmen ihre Bedeutung nicht aufgrund der Größe oder Besonderheit der codierten Objekte erhält, sondern dass ihre Macht vielmehr auf der (beinahe) unscheinbaren Kennzeichnung von massenhaften Nebensächlichkeiten und Alltagsprodukten basiert. Die Einführung des Strichcodes in Europa erfolgte nur wenige Jahre nach dem ersten codierten Kaugummi, doch die Kompatibilität der beiden Codes wurde erstaunlicherweise erst 2005, also drei Jahrzehnte nach ihrer Erfindung und Einführung offiziell dekretiert. Gegenwärtig gibt es Codierungsinstitutionen in mehr als 100 Ländern, welche die Kompatibilität der Warencodes auf allen fünf Kontinenten überwachen. Transnationale Konzerne und Großindustrien sind stolz darauf, dass die (beinahe) weltweite Durchsetzung des Strichcodes (beinahe) freiwillig und (beinahe) ohne nationalstaatliche Reglements durchgesetzt werden konnte. Sie sind ebenso stolz darauf, dass es der Strichcode möglich gemacht hat, jede Warenbewegung lückenlos zu erfassen und auszuwerten, von der Warenbestandsaufnahme, Bestellung und Preisgestaltung über die Platzierungen im Regal bis hin zur Abrechnung. Sie verkünden laut, dass diese Verbesserung der Wertschöpfungsketten die Profite von Händlern und Produzenten gleichermaßen erhöht und schweigen davon, dass es auf der anderen Seite solcher Wertschöpfungsketten Leute geben muss, die diese Profite zu bezahlen haben.

Doch die uniformierende Macht der codierten Warenströme produziert nicht nur Profite (und solche, die sie bezahlen), sondern sie produziert stets auch ein biopolitisches Klima, das ein geeignetes Ambiente für den Konsum der produzierten und codierten Waren bereitstellen soll. Dieses biopolitische Klima schafft eine Anordnung von Bedürfnissen, sozialen Verhältnissen, Körpern, Begehrlichkeiten und Intellekten, mit einem Wort, es bringt Subjektivitäten hervor. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Warenwirtschaft aufgrund der Dynamik von tendenziell sinkenden Profitraten zu einer ständiger Expansion gezwungen ist. In dieser Ausbreitung werden fortwährend Menschen, Dinge und Gesellschaften einverleibt, indem ihre Differenzen kapitalisiert werden, um in einen warenförmigen Austausch zu treten. Dieser Ausbreitungsprozess lässt sich als eine Form von permanenter Codierung begreifen: Die Codes der Warenströme subsumieren bestehende gesellschaftliche Antagonismen, individuelle Widerständigkeiten und soziale Differenzen unter die einheitliche Sprache des Werts und diese permanente Codierung bedient sich unterschiedslos ökonomischer und nicht-ökonomischer Mittel. Wenn zur Schaffung und Aufrechterhaltung des Arbeitsmarktes die Anwendung von ökonomischem Druck durch sinkende Löhne, Verteuerung der Waren, oder die Intensivierung des Arbeitsdrucks nicht mehr ausreichen, werden nötigenfalls auch außerökonomische Zwangsmittel aufgeboten, etwa unrechtmäßige Enteignungen, Festlegungen von Arbeitspflicht oder betrügerische Verträge. Die unermüdlich um sich greifende Codierung unterwirft die Arbeit und das Leben gleichermaßen einer gewaltsamen Transformation, um sie als warenförmige Artikulation in einem (beinahe) globalen Code von Wertigkeiten verfügbar zu machen. Das beschreibt die dunkle Seite von Esslingers Strichcodesklaven, und doch eignet ihnen auch etwas Befreiendes und durchaus Erheiterndes.

Die schelmische Seite von Esslingers Strichcodesklaven besteht darin, dass sie nicht den Eindruck vermitteln, als ginge es in ihrer ganzen unablässigen Tätigkeit ausschließlich darum, Produkte, Gegenstände und Dinge der transnationalen Warenwelt zu codieren und zu transportieren. Sie erwecken vielmehr den Anschein, als wären sie in all ihrer Geschäftigkeit immer auch bestrebt, ihrer strichcodierten Bestimmung zu entkommen und der globalen Warenförmigkeit gewissermaßen durch ihre Umtriebigkeit zu entwischen. Sind die Strichcodesklaven in Bewegung, so wirken sie bunter und färbiger, als wenn sie still stehen oder gar auf den ihnen zugeteilten Waren und Codes ausruhen. Bestimmt arbeiten sie unermüdlich, rund um die Uhr und rund um den Erdball, aber dabei verbreiten sie doch auch eine Idee davon, dass sie vor ihrer Unterdrückung auf der Flucht sind. Bei aller Buntheit driftet ihre Bewegung (beinahe) unmerklich einer Fluchtlinie entlang, weg von Strichcodierung, Entindividualisierung und warenförmiger Subjektivierung. Das emanzipatorische Potential von Esslinger Arbeit liegt in dem Beitrag, den die Strichcodesklaven selbst zu ihrer Decodierung leisten, denn geht darum festzustellen, welche Machtverhältnisse es den Individuen in welchen geographischen und politischen Kontexten ermöglichen, sich zu beschreiben, zu erklären und auszudrücken, um sich damit auf selbstbestimmten Subjektivierungsprozesse einzulassen.

Es wäre zuviel gesagt, den Strichcodesklaven bereits ein Bewusstsein ihrer möglichen Freiheit zu unterstellen, doch Esslingers Inszenierung weist darauf hin, dass diese Sklaven an einer bedeutenden Schwelle dazu angelangt sind. Wenn wahrhaftes Bewußtsein eine ganz besondere Unmöglichkeit miteinschließt, diejenige nämlich, eine noch nicht erprobte Möglichkeit zu begreifen, dann sind Esslingers Strichcodesklaven bereits auf dem Weg dahin: Sie möchten lieber nicht an ihrer fortwährenden Codierung weiterwirken. Ihr Ungehorsam kündigt sich als ein bestimmter decodierender Unfug an, der in eine (beinahe) unbeschwerte Infragestellung von bestehenden Codierungssystemen, Begründungszusammenhängen und deren machtbasierten Gültigkeiten mündet. Sie unterwandern alltägliche und in gesellschaftlichen Institutionen manifestierte Codierungsweisen indem sie sich gegen eine umfassende Strichcodierung und damit gegen deren Bedeutung für die Konzeptualisierung von Welt wenden. Ihre Decodierungsversuche meinen nicht nur die Regulierung von Warenkreisläufen, sondern beziehen sich darüber hinaus auch auf die zwischenmenschliche Kommunikation, die soziale Organisation und in Folge auf das Denken und Wahrnehmen überhaupt. Die Optionen dieser Strichcodesklaven gehen dabei von Erfahrungen, Reflexionen und Infragestellungen von geographischen, kulturellen und politischen Grenzen aus. Ihr decodierender Ungehorsam versucht auch, den Begriff der Wahrheit neu zu verorten, indem sie von dort aus wirken und denken, von wo aus sie hingestellt worden sind.

Esslingers Strichcodesklaven zeigen uns Wesen, die sich im Prozess des Werdens befinden: Unvollendete, unfertige Gestalten in und mit einer gleichermaßen unfertigen Wirklichkeit. Doch diese grundlegende Unfertigkeit ist keineswegs ein Mangel von Esslingers Arbeit, ganz im Gegenteil: Erst die Erfahrung einer unfertigen Wirklichkeit eröffnet ein Verständnis für die Veränderbarkeit der Welt.